Der Weinkenner schwenkt die hellgelbe Flüssigkeit im Glas, senkt die Nase in den Kelch und zieht den Duft ein. Zusammen mit der Atemluft streichen die Aromastoffe des Weins an der Nasenschleimhaut entlang und erreichen schließlich an der Oberseite der Nasenhöhle die Riechrinne. Hier sitzen bis zu 30 Millionen Riechsinneszellen mit ihren Rezeptoren, an die nun die Duftmoleküle ankoppeln – ein jedes davon an die speziell passende Andockstelle. Der dadurch ausgelöste elektrische Reiz in der Sinneszelle wird an das Riechzentrum im Gehirn weitergeleitet, wo der Geruch anhand von vorher abgespeicherten Duftmustern identifiziert wird. Die Duftinformationen gelangen weiter in Hirnareale, die einerseits die Stimmung beeinflussen und andererseits unbewusst körperliche Reaktionen auslösen können. Daher läuft unserem Weinkenner voller Vorfreude das Wasser im Mund zusammen, während er die Aromen von Holunderblüten, reifen Birnen und ein wenig Zitrone identifiziert.
So gut und so detailliert wie in dem Beispiel funktioniert der Geruchssinn längst nicht immer. Meist sind es harmlose Erkrankungen wie eine Erkältung, die das Riechen für kurze Zeit beeinträchtigen. Wer allerdings mehr als drei Wochen lang keine Gerüche wahrnimmt, sollte einen HNO-Arzt aufsuchen. Schon ein kurzer Test mit 12 Düften (Sniffin` Stick Test), der nur einige Minuten dauert, reicht zur ersten Abklärung einer Riechstörung. „Vielen Menschen wird die Bedeutung des Riechens erst klar, wenn sie nichts mehr riechen“, sagt Karl Hörmann, Hals-Nasen-Ohren-Facharzt und Direktor der Universitäts-HNO-Klinik des Klinikums Mannheim. Häufig bemerken die Betroffenen zuerst eine Störung des Geschmacksinns, denn Schmecken und Riechen sind untrennbar miteinander verbunden. Die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge können nur wenige Basisgeschmäcker wie süß, sauer oder salzig identifizieren. Die ganze Bandbreite der Geschmackserlebnisse tritt nur in Zusammenhang mit den Riechsinneszellen in der Nase auf. Erst wenn der Duft der Erdbeeren in die Nase steigt, wird der volle Beerengeschmack wahrgenommen. Und wer sich beim Kaffeetrinken einmal die Nase zuhält, wird vom reinen Geschmack des Muntermachers enttäuscht sein. Patienten mit komplettem Riechdefizit verlieren häufig die Lust am Essen und nicht selten auch ihre Lebensfreude, wie Hörmann berichtet. Untersuchungen haben gezeigt, dass depressive Menschen ein schlechtes Riechvermögen haben. Ob dies eine Folge oder etwa eine Ursache für ihr Stimmungstief ist, wird noch untersucht.
Etwa 20 Prozent der Bevölkerung klagen über Störungen des Geruchssinns, wohingegen rund fünf Prozent überhaupt nichts riechen. Sie nehmen nicht wahr, ob der Fisch, den sie eingekauft haben, noch frisch ist, ob der Pullover nach Schweiß muffelt oder ob ein Brand im Nachbarzimmer schwelt. Eine mögliche Ursache für Riechstörungen ist das Alter, denn mit den Jahren nimmt der Geruchssinn langsam ab, so wie auch andere Sinnesleistungen wie Hören und Sehen schlechter werden. Polypen oder eine schiefe Nasenscheidewand können den Luftstrom ablenken, so dass die Duftmoleküle die Riechsinneszellen nicht erreichen. Die Einnahme bestimmter Medikamente und auch Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes schwächen ebenso das Riechvermögen. In den meisten Fällen handelt es sich allerdings um eine vorübergehende Beeinträchtigung des Riechsinns, hinter der eine Erkältung oder ein Infekt der Nasennebenhöhlen steckt. Wenn Schleim die Nase verstopft, sind die Riechzellen blockiert. Hier helfen abschwellende Nasentropfen oder bei stärkeren Entzündungen Kortikosteroide und Antibiotika. Auch bei einem allergisch bedingten Schnupfen rät Karl Hörmann zu einem entzündungshemmenden Nasenspray.
Durch einen Virusinfekt können die Rezeptoren der Riechzellen hoch oben in der Nase auch nachhaltig geschädigt werden, doch dies bedeutet noch nicht das Aus für den Geruchssinn, wie der HNO-Klinik-Chef erklärt: „Bei einer Schädigung des Riechvermögens ist häufig eine Erholung ohne ärztliches Zutun möglich, denn die Riechsinneszellen erneuern sich konstant.“ Etwa alle vier bis sechs Wochen wachsen neue Zellen des Riechepithels heran und ersetzen die alten Zellen – eine Besonderheit, die bei anderen Sinnessystemen nicht zu finden ist. Dennoch bleibt gelegentlich eine Riechstörung bestehen, obwohl die entzündliche Erkrankung abgeklungen ist.
In rund acht Prozent aller Fälle ist die Ursache für die Beeinträchtigung des Geruchssinns ein Unfall. Es reicht schon ein relativ leichter Sturz auf den Hinterkopf oder ein Auffahrunfall, um das Gehirn zu schädigen: Durch den Stoß wird das Riechhirn, das hinter der Stirn sitzt, nach vorne geschleudert und prallt an den Schädelknochen, wodurch der Riechnerv oder nachgeschaltete Hirnareale verletzt werden können. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Grund für länger anhaltende Riechstörungen, der erst vor einigen Jahren entdeckt wurde: „Wir müssen auch degenerative Erkrankungen des Nervensystems wie Parkinson oder Alzheimer in Betracht ziehen“, erläutert Karl Hörmann. „Riechdefizite sind ein wichtiges Frühsymptom für Parkinson oder Alzheimer-Demenz: Über 95 Prozent der Parkinson-Patienten leiden unter olfaktorischen Störungen.“ Dabei treten die Riechstörungen schon vier bis sechs Jahre vor den typischen motorischen Auffälligkeiten wie Zittern oder verlangsamtes Gehen auf. Der mangelnde Geruchssinn dient den Ärzten als ein Leitsymptom, das dabei hilft, die richtige Diagnose zu stellen.
Am Anfang einer möglichen Therapie der Riechstörung steht die Abklärung der Ursache. Danach kann eventuell ein Medikament ausgewechselt oder eine Grunderkrankung wie Diabetes behandelt werden. Polypen oder eine schiefe Nasenscheidewand können operativ behandelt werden. Doch „in allen anderen Fällen sind die therapeutischen Maßnahmen derzeit stark limitiert“, bedauert Hörmann. In manchen Fällen hilft ein Riechtraining, das z.B. in HNO-Kliniken angeboten wird. Dabei greift man u.a. auf das Assoziationsvermögen zwischen Sehen und Riechen zurück. Der Patient sieht zum Beispiel eine Zitrone und bekommt gleichzeitig den Duft der Zitrusfrucht angeboten. Über mehrere Wochen hinweg muss der Betroffene morgens und abends an bestimmten duftstoffbefüllten Riechstiften schnuppern. In manchen Fällen zeigt sich dabei eine deutliche Verbesserung des allgemeinen Riechvermögens. Wer als gesunder Mensch etwas Gutes für seinen Geruchssinn tun möchte, für den hat Karl Hörmann einen einfachen Rat: „Rauchen Sie nicht! Das ist der beste Tipp zur Vorbeugung.“
Rund 10.000 verschiedene Gerüche kann die menschliche Nase im besten Fall wahrnehmen. Zur Überprüfung des individuellen Riechvermögens werden so genannte Sniffin` Sticks eingesetzt. Sie sehen aus wie dicke Filzstifte und sind mit verschiedenen Düften gefüllt. Mit ihrer Hilfe kann man herausfinden, welche Düfte der Patient überhaupt erkennt, ob er sie unterscheiden kann und wo die Riechschwelle liegt. Ein Gerät namens Olfaktometer erlaubt sogar objektive Aussagen über das Riechvermögen des Betroffenen – was nach Unfällen aus haftungsrechtlichen Gründen oft wichtig ist. Dem Patienten wird eine bestimmte Konzentration von Duftmolekülen in die Nase geblasen, während gleichzeitig die Hirnströme aufgezeichnet werden. So kann man genau beurteilen, welche Geruchsreize im Gehirn ankommen.
Bei einem professionellen Riechtraining, das verschiedene HNO-Kliniken im deutschsprachigen Raum anbieten, müssen sich die Patienten 12 Wochen lang mehrmals täglich im Dufterschnuppern üben: Rose, Eukalyptus, Zitrone und Gewürznelke sind die Trainingsdüfte. Dadurch erhofft man sich die Regeneration von Riechzellen und die Verankerung der Riecheindrücke im Gehirn.
Auch gesunde Menschen können ihren Geruchssinn trainieren, indem sie Geruchsnoten in ihrer Umgebung bewusst aufnehmen. Dabei ist es hilfreich, die Düfte mit Worten zu beschreiben oder mit einem Bild zu verknüpfen (blühende Lavendelfelder bei Lavendelduft). Die meisten Riecheindrücke sammelt man in seinen ersten drei Lebensjahren. Der HNO-Mediziner Karl Hörmann dazu: „Wenn der Erbe einer Parfümdynastie schon als Kind mit dem Großvater Düfte erschnuppert, wird er einen viel besseren Geruchssinn entwickeln als andere Kinder.“