Denn “bei Kindern”, so Prof. Dr. Dietrich Reinhardt, LMU München, auf einer Veranstaltung der Hexal-Initiative Kinderarzneimittel Ende September in Bremen, “würden diese Wirkstoffe ohne ausreichende Erfahrung eingesetzt. Hier gelte es, die Verordnungs-Grauzone zu verlassen”.
In Europa, so die Einschätzung der Hexal-Initiative, sind mehr als die Hälfte der zur Behandlung von Kindern eingesetzten Arzneimittel nicht für Kinder zugelassen. Für eine genaue Beurteilung der Situation fehlte bisher eine genaue Aufstellung der zur Behandlung von Kindern unbedingt erforderlichen Arzneimittel. Die Hexal-Initiative Kinderarzneimittel hat deshalb eine Verordnungsanalyse durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Studie wurden jetzt erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt.
Ausgewertet wurden, so die Bremer Wissenschaftlerin Dr. Katrin Janhsen, MPH, 1,3 Millionen Verordnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) für Kinder im Alter zwischen 0 und 15 Jahren. Dabei fanden sich Verordnungen von 864 verschiedenen Wirkstoffen. Die GEK hat 200.000 Patienten in der erwähnten Altersgruppe.
90 Prozent der Kinder bis zehn Jahre erhalten mindestens einmal jährlich ein Rezept. In der Regel erhalten sie Medikamente zur Akuttherapie. Überwiegend werden kleine Packungsgrößen im unteren Preissegment verordnet. Allerdings fehlen bei den meisten verordneten Präparaten Hinweise auf die Anwendung bei Kindern. Insbesondere bei Arzneien der Augenheilkunde, der HNO oder der Dermatologie finden sich keine Anwendungshinweise.
Die Einteilung der Wirkstoffe erfolgte in drei Klassen. Im grünen Bereich finden sich die Medikamente, die für Kinder zugelassen sind und deren Anwendung in der Fachinformation ausdrücklich erlaubt ist. Gelb werden die Wirkstoffe gekennzeichnet, die zwar verordnet, deren Anwendung bei Kindern aber nicht erwähnt wird. Wirkstoffe, deren Anwendung kontraindiziert ist, wurden schließlich dem roten Bereich zugewiesen.
Das Problem, so der Leiter des Instituts für klinische Pharmakologie des Klnikums Berlin-Mitte, Prof. Dr. Bernd Mühlbauer, bestehe in den juristischen Konsequenzen aus der Festlegung der Anwendbarkeit. Denn zur Erlangung einer Zulassung müssten entsprechende Studien durchgeführt werden. Dieses stehe angesichts der in der Mehrzahl kostengünstigen Präparate in keinem Verhältnis zu den Studienkosten.
An dieser Stelle will die Hexal-Initiative einen Pool bilden, mit dem die Kosten für die Studien wichtiger Arzneimittel getragen werden können.
Kinder durchlaufen von der Geburt bis zum Erwachsenenalter verschiedene Entwicklungsstufen, in denen unterschiedliche Bedürfnisse an die medikamentöse Behandlung bestehen. Deshalb wurden die Verordnungen sechs Altersgruppen zugeordnet. Anhand der Fachinformationen wurde ermittelt, für welche Altersstufe der Hersteller sein Medikament bestimmt hat.
Erwartungsgemäß sank der Anteil der nicht für die Altersgruppe bestimmten Medikamente mit zunehmendem Alter vom Säugling zum Jugendlichen von 39 auf 14 Prozent. Allerdings waren in den großen Anwendungsgebieten der Kinderheilkunde, den Atemwegs- und Infektionserkrankungen, die Quote der nach Herstellerangaben nicht geeigneten Präparate mit zwei Prozent erfreulich niedrig.
Dagegen werden insbesondere die Neugeborenen nicht bei den Arzneimittelzulassungen berücksichtigt. In der jüngsten Altersgruppe liegt der Anteil der Off-Label-Präparate bei 46 Prozent. Nur in 22 Prozent der Arzneimittel waren in der Fachinformation ausdrücklich zur Behandlung im ersten Lebensmonat zugelassen.
Aufgrund dieser Zahlen forderte Mühlbauer, die Arzneimittelsicherheit für Kinder zu erhöhen. Ein erster und dazu kostengünstiger Schritt könnte die Überarbeitung der Fachinformationen sein. Hier müssten eindeutig und an definierter Stelle die Hinweise zur Anwendung bei Kindern zu finden sein.
Neue Arzneimittel werden zuerst an Erwachsenen geprüft und für diese Altersgruppe zugelassen. Aus wirtschaftlichen Gründen werden Medikamente, die nicht zum großen Anwendungsgebiet der Kinderheilkunde gehören, nicht für Kinder geprüft und zugelassen. Somit stehen neue Arzneimittel entweder nicht oder erst nach vielen Jahren zur Therapie von Kindern zur Verfügung, wie Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz, Frankfurt am Main, konstatierte. „Bei innovativen Arzneimitteln beispielsweise zur Behandlung der Migräne ist von den fünf zugelassenen Wirkstoffen keines zur Anwendung unter 17 Jahren empfohlen.“ Somit sind Kinder und Jugendliche auf den Off-Label-Use angewiesen. Bei den Mitteln zur Reduktion der Magensäure, den Protonenpumpenhemmern, ist nur eines von fünf zugelassenen Präparaten auch für Kinder ab einem Jahr zugelassen.
Die Bundesregierung hat diese Grauzone entdeckt und das Arzneimittelgesetz novelliert. Dadurch sollen die Bedingungen für die Durchführung von Studien mit Kindern erleichtert werden. Ein Großteil dieser Studien erfolge, so Prof. Reinhardt, an nicht-kommerziellen Forschungseinrichtungen. Insbesondere die universitären Kompetenzzentren, die im Bereich der Kinderheilkunde ein eigenes Netzwerk (paed-net) aufgebaut haben, leisten hier einen wesentlichen Beitrag. Das vom Gesetzgeber klar formulierte Ziel, auch in der Kinderheilkunde sichere Arzneimittel zur Verfügung zu stellen, rückt dadurch deutlich näher. Dieses Ziel wird auch von der Hexal–Initiative verfolgt.
Die Hexal-Initiative wurde zur Förderung der Sicherheit der Arzneimitteltherapie bei Kindern gegründet. Die gemeinnützige Gesellschaft gewährt materielle Unterstützung für klinische Studien mit generischen Arzneimitteln, die in der Kinderheilkunde von Bedeutung sind und die Entwicklung kindgerechter Darreichungsformen. Sie engagiert sich dafür, dass Kinder vermehrt am therapeutischen Fortschritt teilhaben können und betreibt Öffentlichkeitsarbeit zur Steigerung der Akzeptanz von klinischen Studien für Kinder. Die Initiative informiert über sich und ihre Projekte.