Medizinischer Fortschritt ist in Zukunft zu vertretbaren Kosten zu finanzieren. Das kann dann gelingen, wenn Innovationen aus der Diagnostik und der Therapie eine personalisierte Medizin möglich machen, die zielgenau wirkt und Nebenwirkungen vermeidet. Gleichwohl wird nach Expertenauffassung ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs über Prioritätensetzungen im deutschen Gesundheitswesen notwendig sein, wobei allerdings strittig bleibt, wer konkret über Prioritäten oder gar explizite Rationierung entscheiden soll.
Dies waren die wichtigsten Ergebnisse des 3. Berliner Roche Forums, bei dem Entscheidungsträger aus dem Gesundheitswesen und Wissenschaftler am Donnerstag, dem 24. April 2008 diskutiert haben. Für den Veranstalter machte Roche Vorstand Dr. Hagen Pfundner deutlich, dass eine dauerhafte Sicherheit einer qualitativ guten Versorgung nur durch medizinisch- technischen Fortschritt möglich ist. Allerdings werde wahrscheinlich nicht alles, was der Fortschritt möglich mache und aus der Perspektive des Patienten wünschbar sei, auch finanziert werden können.
Die Begrenzung von Mitteln - auch als Folge gesetzlicher Budgetierung - hat in den vergangenen Jahren das Arzt-Patienten-Verhältnis belastet. Dr. Ulrich Graeven von der Arbeitsgemeinschaft internistischer Onkologen kritisierte vor allem, dass keine offene und öffentliche Debatte über notwendige Prioritätensetzungen stattfindet. Stattdessen würden Ärzte mit Drohkulissen konfrontiert - zum Beispiel Regressandrohungen beim Off Label Use von Arzneimitteln -, die dann zu einer heimlichen Rationierung beim einzelnen Patienten führen. So werde das Problem der Mittelknappheit von der gesellschaftlichen Ebene in das individuelle Arzt-Patienten¬Verhältnis verlagert. Bestätigt wurde dies von der Journalistin und Krebspatientin Sibylle Herbert: „Es gibt eine Medizin nach Kassenlage - das Schlimme daran ist, dass die Politik dies leugnet und dass es für Patienten keine Transparenz und kein erkennbares System der Prioritätensetzung gibt.”
Eine ausgesprochen selbstkritische Bilanz der Wirtscharts- und Sozialpolitik in den zurückliegenden 20 Jahren zog der CDU-Politiker Dr. Heiner Geißler, der Mitte der 70er Jahre das Schlagwort von der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen” eingeführt hatte. Als Folge verfehlter Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft sei eine neue Art der Diskriminierung von Menschen entstanden: die Kategorie der Armen, Alten und Arbeitslosen - Menschen, die nur noch als „Kostenfaktoren” angesehen würden. Die Ökonomisierung der Medizin habe den Patienten zum Kunden und den Arzt zum Fallpauschalen- Jongleur gemacht. Sehr nachdrücklich forderte Geißler eine offene Diskussion über Methoden der Priorisierung. Der richtige Ort dafür sei das Parlament auf keinen Fall Kommissionen, die mit nicht betroffenen Experten besetzt seien.
In dieser Schärfe wollten Vertreter aus der Wissenschaft Geißlers Kritik nicht gelten lassen. Der Chirurg und Medizin-Ethiker Professor Eckhard Nagel hält die Ethik der Handelnden heute für nicht schlechter als vor 50 Jahren. Das Problem des Mangels sei auch eine Folge hoher Erwartungen. Der Gesundheitsökonom Professor Michael Schlander hält die Folgekosten sowohl des demografischen Wandels wie auch des medizinischen Fortschritts zu moderat steigenden Beiträgen für die Krankenversicherung für finanzierbar, vorausgesetzt, es gelingt auf Dauer ein Wirtschaftswachstum von einem Prozent zu erreichen. Unter dieser Voraussetzung, so seine Modellrechnung, sei es möglich, in den nächsten 30 Jahren die berechenbare Belastung aus der alternden Bevölkerung sowie den Kostenanstieg des medizinischen Fortschritts zu finanzieren, ohne den absoluten Betrag des Einkommens für andere Verwendungsmöglichkeiten einzuschränken. Die Schwäche des gegenwärtigen Finanzierungssystems sei seine Abhängigkeit von Arbeitseinkommen.
Eine weitere Möglichkeit die Wirtschaftlichkeit der Medizin zu verbessern, ist der technologische Fortschritt selbst wie Dr. Rainer Metzger von der Hoffmann-La Roche AG aus Basel darlegte. Einen vielversprechenden Lösungsansatz dazu biete die personalisierte Medizin, bei der Roche Erkenntnisse aus der Molekularbiologie sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie verknüpft. Dabei werden - das ist heute schon Praxis bei bestimmten Brustkrebs-Typen, bei der HIV-Sequenzierung und bei der Geschwindigkeitsmessung der individuellen Verstoffwechselung von Arzneimitteln - durch Biomarker Patientengruppen identifiziert, die auf eine Therapie ansprechen, bei denen eine Therapie ohne Erfolg bleibt oder bei denen mit schweren Nebenwirkungen zu rechnen ist. Die viel höhere Zielgenauigkeit der Therapie macht sie dann auch effizienter, auch wenn im Einzelfall die Behandlungskosten höher als die der Vorgängertherapien sind.
Für ein rationales und vertretbares Instrument zur Entscheidung darüber, ob Innovationen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden sollen, hält der Duisburger Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem die mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz möglich gewordene Kosten- Nutzen-Bewertung. Die dazu bislang vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen entwickelte Methodik entspreche allerdings nicht dem internationalen Standard und werde von den 30 führenden deutschen Gesundheitsökonomen einhellig kritisiert. Wasem plädiert für eine gesamtgesellschaftliche Perspektive hinsichtlich der Nutzen- und Kostenaspekte, für die Verwendung des Konzepts der lebensqualitätsadjustierten gewonnenen Lebensjahre MLY), um bei unterschiedlichen Krankheiten einen Einheitsmaßstab zur Beurteilung zu bekommen und für gleiche Zeithorizonte, wenn Kosten und Nutzen betrachtet werden.