Zwanzig Kilometer am Tag: Das ist das übliche Bewegungspensum von Emmi K., 82 Jahre. Die körperlich rüstige alte Dame liebt es, sich zu bewegen, auch wenn sie oft nicht weiß, wohin sie geht oder wo sie gerade angekommen ist. Ernst oder August? Wilhelm P. wiederum weiß an manchen Tagen nicht, wie der Mann heißt, der ihn aus dem Spiegel anschaut. Und diese Tage werden häufiger, dem Mann mit den dichten grauen Locken macht das große Angst. Emmi K. und Wilhelm P. haben eines gemeinsam: Sie sind dement.
In der Altersgruppe der 70- bis 74-Jährigen sind etwa 3 Prozent betroffen, bei den 80- bis 84-Jährigen bereits 13 Prozent und etwa ein Drittel der Menschen über 90 Jahre.
Demenz ist der Sammelbegriff für Erkrankungen, die mit einem Verlust von geistigen Funktionen verbunden sind. Dazu zählen Denken, sich Erinnern und Orientieren oder das logische Verknüpfen von Gedanken. Ein solcher Verlust kann je nach Ausprägung dazu führen, dass alltägliche Aktivitäten nicht mehr eigenständig durchgeführt werden können. Zu den verschiedenen Demenzformen zählen die Alzheimer-Demenz, die gefäßbedingte („vaskuläre“) Demenz oder die frontotemporale Demenz (FTD), die einzige Demenzform, die vor dem 60. Lebensjahr genau so viele Menschen betrifft wie danach. Weitere Demenzformen können durch nicht-hirnorganische Grunderkrankungen hervorgerufen werden, beispielsweise Stoffwechselstörungen, Schilddrüsenerkrankungen, einem Mangel an Vitamin B12, Alkoholmissbrauch, Hirnhautentzündungen oder AIDS.Die häufigste Form der Demenzerkrankungen ist die Alzheimer-Demenz, an der rund Dreiviertel aller Demenzpatienten leiden. Bei der vaskulären Demenz sind Durchblutungsstörungen bis hin zum Schlaganfall die Ursache. Eine Demenzerkrankung ist eine chronisch-fortschreitende Erkrankung, die nicht zum Stillstand kommt. Sie beginnt mit Einschränkungen des Denkvermögens und endet mit dem Verlust aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten, wobei nicht alle Menschen mit einer Demenz diese letzte Phase tatsächlich auch erleben. Für den Betroffenen und seine Angehörigen bedeutet dies eine grundlegende Veränderung der Lebensführung und Lebensplanung.
Es ist nicht immer einfach, den Beginn einer Demenz auch als solchen wahrzunehmen. Viele Patienten bluffen in der ersten Zeit oder können geistige Defizite in einem Frühstadium kompensieren. Nicht selten entschuldigen Betroffene Vergesslichkeiten vor sich selbst oder anderen mit der Erklärung, sie hätten gerade Stress oder dass man sie ärgern möchte, weil etwas nicht klappt. Vergesslichkeit und zeitliche Orientierungsprobleme können erste Anzeichen für eine Demenz sein, müssen es aber nicht. Ein typisches Beispiel ist der Topf, der auf dem eingeschalteten Herd vergessen wurde: aus Nachlässigkeit, über einem Telefonat oder weil man in eine andere Beschäftigung vertieft war. Mit dem Duft angebrannter Speisen sehen sich mitunter auch geistig fitte Mittdreißiger konfrontiert. Menschen mit Demenz vergessen jedoch nicht nur den Topf auf dem Herd, sondern auch, dass sie gekocht haben. Mit dem Fortschreiten einer Demenz nehmen die geistigen Fähigkeiten und damit auch die Möglichkeiten, ein selbständiges Leben zu führen, ab. Typisch sind hierfür unter anderem eine mehr oder weniger ausgeprägte Desorientierung zu Zeit und Ort, Sprachstörungen, große Schwierigkeiten, einfache Handgriffe des täglichen Lebens zu verrichten, eine Vernachlässigung der körperlichen Hygiene. So kann es passieren, dass Menschen mit Demenz eine völlig unpassende Kleider-wahl treffen und im Pyjama aus dem Haus gehen möchten oder an einem heißen Tag mehrere Wollpullis übereinander tragen.
Bei schwer ausgeprägter Demenz sind die Betroffenen auf umfassende Pflege angewiesen. Gedächtniszerfall und Verlust des Sprechvermögens schreiten fort, die Betroffenen sind zur eigenen Person nicht mehr orientiert. Im
Spätstadium einer Demenz geht außerdem immer mehr die Fähigkeit zu einem verbalen, auf kognitiven Fähigkeiten basierenden Kontakt mit dem Erkrankten verloren, was für die Angehörigen sehr belastend sein kann, so Detlef Rüsing, Leiter des Dialog- und Transferzentrums Demenz an der Universität Witten/Herdecke und Herausgeber der Zeitschrift “pflegen: Demenz”. Dafür sind Kontaktmöglichkeiten auf emotionaler Ebene wie Umarmen, Lächeln, Zärtlichsein sehr lange erhalten.
Außerdem ist eine Demenz häufig mit Persönlichkeitsänderungen verbunden: So kann eine Demenzerkrankung Menschen mit einem immer freundlich-sanftem Wesen aufbrausend und jähzornig oder Draufgänger zu ängstlichen Menschen werden lassen.
Die Diagnosestellung einer Demenz erfolgt oft viel zu spät. Hausärzte kennen ihre Patienten meist lange und gut, was dazu führt, dass Frühsymptome nicht als solche wahrgenommen werden. Leider ist es auch durchaus üblich, ab einem bestimmten Lebensalter eine gewisse Verwirrtheit als normal anzusehen und eine beginnende Demenz gar nicht erst zu erwägen. Bei entsprechenden Verdachtsmomenten kann eine erste Untersuchung beim Hausarzt stattfinden, wo schon ein fünfzehn Minuten dauernder Alzheimer-Test einen ersten Anhaltspunkt geben kann. Bestätigt sich dieser Test, sollte ein Neurologe/Psychiater zur weiteren Diagnostik hinzugezogen werden. Dabei sollte bedacht werden, dass Demenz mit vielen körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen verbunden ist, aber nicht jede Beeinträchtigung in einem dieser Bereiche ist automatisch auf die Demenz zurückzuführen. Schreiende Patienten können neben einer Demenz ganz einfach Schmerzen haben, auf die sie aufmerksam machen möchten – beispielsweise bei unbemerkten Knochenbrüchen. Sinnvoll ist es auch, die Seh- und Hörfunktion von Menschen mit Demenz zu überprüfen, was auch bei eingeschränkten diagnostischen Möglichkeiten erfolgen kann: So kann es die Sicherheit im Alltag verbessern, weil der Patient sich beispielsweise mit einer angepassten Brille oder einem Hörgerät besser und sicherer bewegen kann.
Zur Therapie gibt es Medikamente, die stabilisierend wirken, allerdings nur für einen bestimmten, eher kurzen Zeitraum. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass bereits bei den ersten Anzeichen für eine Alzheimererkrankung ein Großteil der Nervenzellen irreversibel zerstört sind.
Die Pflege von Demenzkranken stellt besondere Anforderungen an Angehörige oder Pflegekräfte. Pflegende müssen schnell realisieren, worum es gerade geht. Wichtig ist es, innezuhalten und darauf einzugehen, was der andere gerade bietet, rät Gerda Zölle, Lehrerin für Pflegeberufe und bei der WALA Heilmittel GmbH für die Beratung Fachpflege zuständig. Die Fragen, die sich dabei stellen, sind: Wer bist Du? Was berauchst Du? Wichtig ist dabei auch, nicht überzeugen zu wollen, weil dies Gegenwehr oder gar Aggression bei den Erkrankten hervorrufen könnte.
In der Pflege von demenzkranken Menschen hat sich die Einbindung des personzentrierten Ansatz des Psychologen Carl Rogers und die personenzentrierten Pflege nach Tom Kitwood bewährt. Wichtig sind außerdem Erinnerungsarbeit sowie die Validation nach Naomi Feil oder von Nicole Richard. Beim Umgang mit demenzkranken Menschen hilft die Einsicht „Wenn ich mich ändere, kann der andere das auch.“, denn das Verhalten von Menschen - freundlich, aggressiv, erregt oder apathisch – korreliert auch mit seinem Umfeld. Detlef Rüsing merkt dazu an: „Vor dem Handeln kommt das Verstehen“ – auch wenn dies für die Pflegenden nicht immer einfach ist.
Mit zunehmender Krankheitsschwere werden Familie oder Freunde mit der Frage konfrontiert, ob der Erkrankte in seinem häuslichen Umfeld noch alleine leben kann oder ob er zuhause in familiärer Geborgenheit oder in einem Heim gepflegt werden soll. Eine solche Entscheidung ist eine (Familien-)Entscheidung, hinter der viele weitere Aspekte stehen. Damit verbunden ist möglicherweise die Aufgabe des eigenen Berufs, finanzielle Möglichkeiten müssen ausgelotet und Sozialstationen gefunden werden, die in die Pflege eingebunden werden können. Wichtig ist dabei, die eigenen Grenzen zu erkennen und abzuschätzen, wie belastbar ein Familiengefüge ist, rät Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg e.V.. Häusliche Betreuung durch Sozialpflegestationen oder privates Pflegepersonal kann helfen, Angehörige zu entlasten und Stress zu nehmen. Und nicht nur das: sie kann auch helfen, Menschen mit noch gering ausgeprägten geistigen Einschränkungen in ihrem eigenen häuslichen Umfeld zu belassen. Sylvia Kern: „Ganz wichtig ist auch, dass sich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen darüber hinaus als Teil der Gesellschaft fühlen, sich nicht verstecken müssen und Wertschätzung erfahren.“
Ein selbstbestimmtes Leben zuhause („Ambient Assisted Living“, AAL) ist mit Hilfe von technischen Möglichkeiten realisierbar, wozu inzwischen bezahlbare GPS-Systeme für den kleinen Spaziergang zählen, aber auch einfache präventive Maßnahmen wie eine Sturzmatte vor dem Bett oder eine Herdsicherung.
Ist es erforderlich, einen Demenzkranken in einem Heim pflegen zu lassen, bietet eine Einrichtung, die schulmedizinische mit anthroposophischer Pflege verbindet, einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem das Erhalten, Fördern und Wiederherstellen von Lebensqualität im Mittelpunkt steht. Das schließt ein, dass auch die seelischen und geistigen Bedürfnisse des Patienten berücksichtigt werden. Hierbei werden unter anderem Kunst- und Musiktherapie, die als Königsweg bei der Pflege und Therapie von Demenzkranken angesehen wird, genutzt: Denn wenn es fast unmöglich scheint, mit einem dementen Menschen noch in Kontakt treten zu können, hilft die Musik.
Demente Menschen brauchen von ihren Pflegenden Zeit, Rhythmus, Zuwendung, stellt Gerda Zölle fest und empfiehlt, sich bei der Pflege zu fragen: „Wer bist Du? Was magst Du? Was brauchst Du?“. Ist ein Patient unruhig, kann man beispielsweise Lavendel mit seiner beruhigenden Heilwirkung auswählen – aber nicht irgendwie! In der anthroposophischen Pflege würde man sich gemäß der Vorlieben und Gewohnheiten dieses Patienten überlegen, in welcher Form der Lavendel angewandt werden sollte: Bei einer Vorliebe für Berührungen kann mit Lavendelöl massiert werden, wer Bäder mag, bekommt ein Lavendelbad. Einreibungen oder ein Fußbad wären weitere Möglichkeiten, die Wirkung von Lavendel zu nutzen, ebenso wie ein Lavendeltee.
Ist der Zugang zu Demenzpatienten erschwert, kann Biografiearbeit mit Hilfe von Fotos, Bildbänden zu bestimmten Themen oder anderen „Hilfsmitteln“ dazu beitragen, in Kontakt zu treten. Dazu gehört auch, gemeinsam etwas unternehmen – zum Beispiel Hausarbeiten. So erinnern sich manche Demenzpatientinnen beim Fensterputzen oder Kartoffelkochen, dass sie das früher auf bestimmte Art und Weise gemacht haben und beginnen, sich zu öffnen. Gerda Zölle lässt hierzu einen Patienten zu Wort kommen, der auf den Punkt bringt, worum es bei der Pflege von Demenzkranken im Wesentlichen ankommt: „Schwester Gisela, manchmal verliere ich mich selbst, aber meine Frau und mein Sohn finden mich immer wieder.“
1,2 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Demenz.
2,4 Millionen Menschen in Deutschland werden 2015 dement sein.
Ein Drittel der über 90-Jährigen hat eine Demenz.
Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Zur Demenz gehören die Alzheimer-Erkrankung, die vaskuläre Demenz, die fronto-temporale Demenz und andere.
Demenz ist nicht gleich Alzheimer, aber Dreiviertel aller Demenzkranken haben eine Alzheimererkrankung.
Eine Demenzerkrankung ist eine chronische Erkrankung, die nicht heilbar ist
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, Carl Hanser Verlag
Huub Buijssen: Demenz und Alzheimer verstehen, Beltz Verlag
Tom Kitwood: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Huber-Verlag
John Baylay: Elegie für Iris, Verlag C.H. Beck