Marihuana und Heroin scheinen in Spanien weniger gefragt zu sein als Viagra. Diese Pille aber spielt in der im Grunde genommen konservativen spanischen Gesellschaft eine weitaus größere Rolle als die ihr als Potenzheber zugedachte: Viagra ist zur Mode-Droge geworden. Die Pille wird von Alt und Jung genommen, in geradezu rauhen Mengen, auch von sehr jungen Männern, halben Kindern noch, solchen Personen also, die es physiologisch absolut nicht nötig haben. Und junge Frauen, die ein völlig intaktes, befriedigendes Sexualleben zugeben, bestürmen ihre Liebhaber, auf alle Fälle Viagra zu nehmen. Die in Berlin lebende spanische Schriftstellerin Carmen bestätigt das: „Ja, das ist so - wenn ein Mann uns gut tut, auch sehr gut, wollen wir noch mehr”.
Diese Ansicht variiert Spaniens führender Sexologe, Dr. Carlos San Martin, auf wissenschaftlicher Basis: „Wir erleben in Spanien eine Viagra-Explosion. Die Pille wird natürlich auch aus physiologischen Gründen genommen, aber sie ist inzwischen zum soziologischen Phänomen geworden, sie gilt als Pille der Entspannung, als ein Muss
auf Parties, und sie wird deshalb von Männern jeglichen Alters konsumiert - jeder Spanier will heutzutage Supermann sein”.
Die „New York Times”, dieses altehrwürdig-angesehene Blatt, hat diese Thematik aufgegriffen, in einem entsprechenden Artikel wird folgender Vorfall geschildert: Ein Mann zog in einer Madrider Apotheke zwei Spielzeugpistolen und forderte die Herausgabe des gesamten Viagra-Vorrats. Zwei Stunden später tauchte er mit zwei Rosensträußen auf, um sich zu bedanken - mit seiner sofortigen Festnahme hatte er wohl nicht gerechnet.
Wie in Deutschland, so gibt es Viagra auch in Spanien nur auf Rezept. Angesichts des neuerlichen Kultcharakters dieses Potenzmittels werden die Pillen in Discotheken zu quasi Schwarzmarktpreisen gehandelt - 60 Euro das Stück. Junge Disco-Besucher brechen eine dermaßen teure Pille, so berichtet die „New York Times” weiter, in kleine Stücke, so dass „viele etwas davon haben, auch wenn die Wirkung dadurch verringert wird”.
Ärzte berichten von unzähligen Fällen, wo junge Männer Impotenz vortäuschen, um die Kult-Droge verschrieben zu bekommen. Auch dann ist sie immer noch teuer - der Karton mit sechs Pillen kostet auf Rezept knapp 100 Euro. Trotzdem scheint der Viagra-Wahn der Spanier grenzenlos zu sein, denn im vergangenen Jahr wurden im Land mehr als eine Million Packungen Viagra-Pillen im Werte von 1,6 Milliarden Dollar gekauft - so eine Sprecherin für Pfizer, Hersteller des Potenzmittels.
Soziologen haben auch eine politische Analyse des zumindest in Europa einmaligen Phänomens parat. Nach den repressiven und depressiven Jahren des diktatorischen Franco-Regimes schwelgt selbst das katholisch-konservative Spanien in einem „Rausch der Freiheit”, wie es ein spanischen Diplomat in Berlin formuliert. Spanien zählt heute zu den liberalsten Staaten der EU, etwa mit der höchsten Scheidungsrate in Europa, einer Abtreibungslegalisierung, der Möglichkeit von Schwulenehen - und „Sex hat sein Tabu absolut verloren”, ergänzt Dr. Eldiberto Fernandez, ein Urologe und Potenzspezialist. „Früher kamen Männer in meine Praxis und drucksten 40 Minuten herum, bevor sie zugaben, Erektionsprobleme zu haben. Heute kommen alle gleich auf den Punkt”. Auch er wartet mit einem „Liberalisierungsbeispiel” auf: Eine Frau hatte ihn gebeten, ihrem Mann doch bitte schön Viagra zu verschreiben. Als der Mann damit von dem Arzt konfrontiert wurde, meinte der „nicht nötig - mit meiner Geliebten geht es großartig, meine eigene Frau ist das Problem”.
Barbara Alfonso, die Spaniens ersten Escort-Service gegründet hatte, nimmt auch die Rolle der Frau im „befreiten Spanien” unter die Lupe: „Die neue Generation der Spanierin ist wenig beeinflusst von Religion und Tradition. Die Frau von heute will einfach guten Sex - ob sie den nun durch einen Escort bekommt oder ihrem Freund Viagra gibt”.