Anticholinerg wirksame Medikamente - bislang vorzugsweise bei blasenschwachen Frauen zum Einsatz gekommen - haben nun auch beim „starken Geschlecht” einen wesentlich höheren Stellenwert neben alpha-Blockern und auch anderen Substanzgruppen. Dies gilt insbesondere für solche Klassenvertreter, die wie Darifenacin (Emselex®) dank hoher Selektivität für bestimmte Rezeptor-Subtypen ihre Wirkung an der Blase und nicht auch am Gehirn entfalten. Eine von Bayer Vital veranstaltete Pressekonferenz zum Thema „BPH gibt es nicht mehr - Behandlungsmöglichkeiten von ‚male LUTS´ mit Anticholinergika” bot im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) in Dresden die Gelegenheit, sich mit wesentlichen Implikationen der neuen Leitlinien vertraut zu machen - und dies bereits noch vor deren endgültiger Verabschiedung. Motiviert sind die neuen Leitlinien zuvorderst durch diese Erkenntnis: Offenbar zu Unrecht wurde für die benigne Prostatahyperplasie (BPH) in der Vergangenheit stets ein kausaler Zusammenhang zwischen BPH und irritativen (Nykturie, Pollakisurie, imperativer Harndrang etc.) und obstruktiven Blasenbeschwerden (Probleme beim Wasserlassen mit vermindertem maximalen Harnfluss, relevante Restharnmengen, kompletter Harnverhalt etc.) hergestellt. Dementsprechend betonen die derzeit erarbeiteten Leitlinien, dass sowohl irritative als auch obstruktive Symptome nicht zwingend von einer BPH begleitet sein müssen, wohl aber können.
Hinreichend verstanden sind die komplexen Pathomechanismen, die den irritativen und obstruktiven Symptomen eines benignen Prostatasyndroms (BPS) zu Grunde liegen, nach Einschätzung von Prof. Dr. Christian Stief, München, noch bei weitem nicht. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass diese Mechanismen nicht allein die unteren Harnwege betreffen, sondern auch zerebrale und spinale Prozesse. Auf zerebraler Ebene sind etwa Störungen der afferenten Informationsverarbeitung nicht minder wichtig wie die Herabsetzung der suprapontinen Hemmung. Gleichwohl bieten sich auf dem Stand des heutigen Wissens gut fundierte Ansätze für eine rationale, pathophysiologisch begründete Therapie. Unter diesen Ansätzen erscheint eine gesteigerte myogene Aktivität in der Blase selbst bzw. die Möglichkeit, den erhöhten Muskeltonus durch eine nebenwirkungsarme anticholinerge Medikation herabzusetzen, als besonders attraktiv.
Ergebnisse einer grossen epidemiologischen Studie (EPIC 2005) machen deutlich, dass mit den Symptomen einer überaktiven Blase (OAB) durchaus nicht nur Frauen zu kämpfen haben - ganz im Gegenteil. Ist nach den EPIC-Daten vor dem 70. Lebensjahr die Prävalenz bei Männern und Frauen noch weitgehend identisch, sind jenseits des 70. Lebensjahres Männer sogar häufiger betroffen. Trotz ähnlichem Beschwerdebild und ähnlicher Pathophysiologie wurden die auf eine überaktive Blase zurückzuführenden LUTS-Symptome bei den beiden Geschlechtern therapeutisch bislang sehr unterschiedlich angegangen. Setzte und setzt man bei Frauen in diesem Fall ganz überwiegend auf Anticholinergika, kamen bei Männern bislang vor allem alpha-Blocker, 5a-Reduktase-Hemmer oder Phytotherapeutika zum Einsatz - letztere mit fraglicher wissenschaftlicher Evidenz. Hier könnte es künftig zu einer Verschiebung kommen.
Tatsächlich werden Anticholinergika wie Darifenacin in den neuen EAU-Leitlinien zu ‚male LUTS´ nun auf hohem Evidenzniveau (1b) als Alternative zu den alpha-Blockern empfohlen - entweder als Monotherapie oder in Kombination mit alpha-Blockern. Nicht oder nur mit grösster Vorsicht sollten Anticholinergika dann eingesetzt werden, wenn der Verdacht auf eine obstruktive Begleitkomponente (BOO) im Raum steht. Auf eine solche weisen etwa Restharnvolumina von 100 ml oder ein entsprechend niedriger Spitzenwert im Uroflow hin. Aufgrund des Wirkmechanismus der Anticholinergika - in erster Linie eine Dämpfung des Detrusormuskels - kann es dann grundsätzlich zu einer Verstärkung der Obstruktion kommen, die im Extremfall einen kompletten Harnverhalt nach sich ziehen könnte. Bei der Mehrzahl der männlichen LUTS-Patienten liegen nach Expertenmeinung keine klinisch relevanten obstruktiven Komponenten vor.
Aufgrund des Altersgipfels von LUTS-Beschwerden kommt die Verordnung eines Anticholinergikums als Alternative zu oder in Kombination mit einem alpha-Blocker in hohem Prozentsatz bei älteren Patienten in Betracht. Die Auswahl eines entsprechenden Medikamentes sollte dann jenen Sicherheitsaspekten Rechnung tragen, die sich aus dem speziellen Risikoprofil betagter Patienten ergeben. Problematisch sein kann der Einsatz von solchen Antimuskarinika, die ihre Wirkung auch an im Gehirn lokalisierten Rezeptoren entfalten. Es drohen dann u. a. kognitive Leistungseinbußen. Das Risiko entsprechender Nebenwirkungen ist umso höher, wenn die Patienten aus anderen Gründen bereits mit anticholinerg wirksamen Medikamenten behandelt werden. Aufgrund seiner hohen Selektivität für den Muskarinrezeptor-Subtyp M3 ist das Risiko entsprechender zentralnervöser Nebeneffekte im Falle von Darifenacin (Emselex®) vergleichsweise gering.
Nach den in Dresden vorgestellten EAU-Leitlinien zählen auch Phosphodiesterase (PDE) 5-Hemmer zu jenen Medikamenten, mit denen man einer männlichen LUTS-Symptomatik wirksam begegnen kann. Diese Wirksamkeit bezieht sich in erster Linie auf die irritativen Symptome des ehemals als benigne Prostatahyperplasie (BPH) bezeichneten Krankheitsbilds. In prospektiven, plazebokontrollierten Studien liessen sich inzwischen für mehrere PDE5-Hemmer entsprechende Effekte belegen, nicht jedoch auf obstruktive Symptome (BOO). In einer eigenen Untersuchung unter Einschluss von 222 LUTS-Patienten konnte der Münchener Urologe unter der täglichen Gabe von zwei mal 10 mg Vardenafil sowohl günstige Effekte auf die erektile Funktion als auch auf die irritativen LUTS-Symptome demonstrieren. Im Rahmen der Studie waren die Patienten (IPSS > 12) über einen Zeitraum von acht Wochen mit Vardenafil oder Plazebo behandelt worden. Zugelassen sind PDE5-Hemmer wie Vardenafil (Levitra®) bislang nur für die Behandlung der erektilen Dysfunktion.