Wenn der Arzt die Diagnose „Reizdarm” stellt, sind die meisten Patienten trotz ihrer heftigen Beschwerden erleichtert. Denn nach einer Odyssee von Arzt zu Arzt bedeutet dies endlich die Gewissheit, dass ihre Beschwerden wie Unwohlsein, Bauchschmerzen, Durchfall oder Verstopfung auf keine ernsthafte Krankheit hindeuten. Beim Reizdarmsyndrom (RDS) handelt es sich nämlich um eine funktionelle Erkrankung, d. h. es liegen keine organischen Ursachen vor. In Deutschland und in anderen Industrienationen haben 10 bis 25 Prozent der Erwachsenen mit einem Reizdarm zu kämpfen - Frauen doppelt so oft wie Männer.
Auch das Motto des diesjährigen Weltverdauungstages am 29. Mai 2009 lautet RDS. Die WGO („World Gastroenterology Organisation”, Weltorganisation der Gastroenterologen), Initiator der Aktion, informiert an diesem Tag zusammen mit zahlreichen Partnerorganisatoren rund um das Thema Reizdarm.
Stechende Bauchschmerzen oder -krämpfe, quälende Verstopfung oder Durchfälle, unangenehme Blähungen oder Unwohlsein - die Symptome des RDS sind vielfältig. Doch eins haben die Reizdarm-Patienten in Deutschland gemeinsam: Ihre Lebensqualität ist stark eingeschränkt. Ein Reizdarmsyndrom ist nicht lebensbedrohlich, führt aber trotzdem dazu, dass die Betroffenen kein normales Leben führen können und nahezu jeder Aspekt des täglichen Lebens von den Beschwerden beeinflusst wird. Die teils starken Schmerzen haben eine geringere Belastbarkeit zur Folge und die unberechenbare Verdauung führt dazu, dass der sicherste Platz das eigene Zuhause ist. Das stellt sowohl für das Privat- als auch für das Berufsleben eine extreme Herausforderung dar. RDS wird von einigen sogar schlimmer empfunden als Migräne und Asthma. Darüber hinaus treten recht häufig Depressionen und Angststörungen auf, wobei einerseits das Vorhandensein dieser Störungen das Reizdarmsyndrom begünstigt, andererseits die körperlichen Beschwerden selbst zur psychischen Belastung werden können. Untersuchungen aus den USA haben ergeben: Personen mit RDS fehlen etwa dreimal so häufig am Arbeitsplatz, wie Menschen ohne Darmerkrankungen. Die Erkrankten sind mehrheitlich zwischen 30 und Jahren 50 alt, stehen also vielfach unter der Doppelbelastung zwischen Beruf und Familie.
Viele der Betroffenen warten trotz der regelmäßigen Beschwerden bei Magen-Darm-Erkrankungen lange bis sie zum Arzt gehen. Einerseits mag dies daran liegen, dass einige Menschen generell ungern zum Arzt gehen. Andererseits nehmen vor allem Menschen, die nur mit leichten RDS-Symptomen zu kämpfen haben, die Beschwerden nicht ernst. Hauptgrund für die späten Arztbesuche ist aber sicherlich die Tatsache, dass die Hemmschwelle der Patienten, über ihre Probleme zu sprechen, bei Darmerkrankungen besonders hoch ist.
Für die Diagnosestellung ist eine sorgfältige Betrachtung der jeweiligen Krankheitsgeschichte unumgänglich. Auf der einen Seite müssen die typischen Symptome eines Reizdarmsyndroms vorliegen, auf der anderen Seite erfolgt eine Ausschlussdiagnose, um sicherzugehen dass keine organische Erkrankung die Beschwerden hervorruft. Als Alarmsymptome gelten starker Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, zunehmende sowie nächtliche Beschwerden. Durch Untersuchungen wie Bluttests, Ultraschall und Magen- oder Darmspiegelung kann dies ausgeschlossen werden. Auch das Vorliegen einer Laktoseunverträglichkeit, die sich durch die gleichen Symptome äußert wie ein Reizdarm, muss abgeklärt werden Die Diagnose „Reizdarmsyndrom” wird dann anhand der so genannten „Rom-III-Kriterien” gestellt. Zentrale Symptome sind dabei wiederkehrende Bauchschmerzen, die häufig mit Verstopfung oder Durchfall verbunden sind oder mit beiden Symptomen im Wechsel auftreten. Ausgelöst oder zumindest verstärkt werden die Beschwerden vielfach durch Stress oder den Genuss bestimmter Nahrungsmittel. Die Diagnose des Reizdarmsyndroms erfolgt also symptomorientiert, nachdem organische Ursachen ausgeschlossen wurden.
Die Ursachen des RDS sind bis heute nicht vollständig geklärt. Einem Forschungsansatz zu Folge, ist eine Störung im so genannten Bauchhirn für die Symptome verantwortlich. Das Bauchhirn ist mit 100 Millionen Neuronen die größte Ansammlung von Nervenzellen außerhalb des Gehirns. Zelltypen, Botenstoffe und Rezeptoren dieses „enterischen Nervensystems” (ENS) sind denen unseres Zentralnervensystems (ZNS) sehr ähnlich. Ein wichtiger Botenstoff im ENS ist das Serotonin, das entscheidend an der Steuerung der Verdauungsvorgänge beteiligt ist. Vor allem die Bewegung des Darms wird durch Serotonin reguliert, aber auch Reaktionen wie Übelkeit und Erbrechen stehen unter seinem Einfluss.
Kopf und Bauch stehen in ständiger Verbindung zueinander. Die Verdauungsorgane können unsere Stimmung beeinflussen, unterliegen aber auch ihrerseits Impulsen aus dem Kopf. Unangenehme Erlebnisse können einem auf den Magen schlagen, Empfindungen wie Ekel erzeugen Übelkeit und Brechreiz, Stress kann zu Durchfällen und Verstopfung führen. Die Wechselwirkungen sind vielfältig und zum Teil noch nicht hinreichend erforscht.
Das Bauchhirn funktioniert selbstständig und die Vorgänge unseres Verdauungssystems laufen in der Regel unbemerkt ab. Wir nehmen sie erst dann wahr, wenn die Verdauung nicht reibungslos funktioniert. Normalerweise herrscht ein Gleichgewicht zwischen hemmenden und aktivierenden Steuerungsvorgängen. Überwiegen aber die hemmend wirkenden Faktoren, kommt es zu Verstopfung. Ist das Gegenteil der Fall, reagiert der Körper mit Durchfall. Bei Reizdarm-Patienten ist dieses Gleichgewicht gestört und die Verdauung aus dem Takt geraten.
Doch die gestörten Bewegungsabläufe allein erklären nicht die Krämpfe und Schmerzen der Patienten. Hierfür ist eine Überempfindlichkeit des Darms (viszerale Hypersensibilität) verantwortlich. Reizdarm-Patienten empfinden bereits Dehnungsreize des Darms als schmerzhaft, die Gesunde nicht als Beeinträchtigung wahrnehmen. Wie entsteht diese verminderte Reizschwelle? Wenn die Kommunikation zwischen Kopf und Bauch nicht richtig funktioniert und der Serotoninstoffwechsel gestört ist, kann dies zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit führen.
Zusätzlich zu den Störungen des Serotoningleichgewichts kann RDS auch als Folge einer Magen-Darmentzündung auftreten. Fachleute sprechen dann vom postinfektiösen RDS.
Auch andere Ursachen werden derzeit erforscht. Möglicherweise spielen auch genetische Faktoren und Umwelteinflüsse bei der Entstehung und Entwicklung eines Reizdarms eine Rolle.
Kaum eine Erkrankung äußert sich durch so viele unterschiedliche Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass es kein Patentrezept zur Behandlung aller Symptome gibt. Für alle Menschen mit RDS ist wichtig, sich Zeit für die Mahlzeiten zu nehmen und auf Nahrungsmittel, welche die Beschwerden verstärken, zu verzichten. Um herauszufinden, welche Lebensmittel nicht bekömmlich sind, ist ein persönliches Bauchbeschwerden-Tagebuch (z.B. in der Patientenbroschüre „Ratgeber bei regelmäßigen Bauchbeschwerden” von Boehringer Ingelheim) empfehlenswert. Außerdem sollten Entspannungspausen in den Alltag eingebaut und dadurch Stresssituationen reduziert werden.
Die Bekämpfung von Bauchschmerzen und -krämpfen steht im Mittelpunkt der Therapie, denn diese treten nahezu bei allen Reizdarm-Patienten auf. Ursache für die schmerzhaften Verkrampfungen ist meist eine übermäßige Anspannung der Magen-Darm-Muskulatur. Eine schnelle und gut verträgliche Hilfe bei Bauchbeschwerden bietet u.a. Buscopan® (Apotheke). Der darin enthaltene Wirkstoff Butylscopolamin löst die Krämpfe gezielt und zuverlässig und entspannt den Bauch. Die Wirksamkeit von Butylscopolamin wurde in zahlreichen klinischen Studien nachgewiesen und wird daher auch von vielen Fachkreisen empfohlen. Auch ÖKO-Test beurteilte das Mittel mit dem Urteil „sehr gut” .
Bestimmen Darmträgheit oder Verstopfung das Krankheitsbild, bieten Abführmittel wie beispielsweise Dulcolax® oder Laxoberal® (Apotheke) eine zuverlässige und zugleich verträgliche Lösung. Die Wirkstoffe Bisacodyl (in Dulcolax®) und Natriumpicosulfat (in Laxoberal®) regen die natürliche Eigenbewegung des Darms an und bringen die Verdauung schonend wieder ins Gleichgewicht. Bei Durchfall stehen Präparate, welche die Darmtätigkeit vermindern, zur Verfügung, bei Blähungen sorgen Entschäumer für eine Besserung der Beschwerden.
Eine vollständige Heilung des RDS ist derzeit nicht möglich, doch die einzelnen Symptome lassen sich sehr gut behandeln. Den meisten Patienten hilft individuell abgestimmter Mix aus gesunder Lebensführung mit ausgewogener Ernährung, Entspannungsprogramm wie z.B. Yoga und medizinischer Therapie. Die Beschwerden können dadurch wirkungsvoll gelindert werden und die Lebensqualität der Betroffenen steigt erheblich.
Die Rom-Kriterien wurden im Rahmen einer Konsensus-Konferenz führender Gastroenterologen in Rom zur Diagnose funktioneller Störungen des Magen-Darm-Traktes festgelegt. Seit der ersten Veröffentlichung 1992 wurden die Kriterien stetig weiterentwickelt. Seit Mai 2006 sind die so genannten Rom-III-Kriterien gültig.
Gemäß der Rom-III-Kriterien liegt ein Reizdarm vor, wenn wiederkehrende Bauchschmerzen oder Unbehagen im Bauch über mindestens drei Tage pro Monat während der letzten drei Monate auftraten und mindestens zwei der folgenden Kriterien zutreffen:
Die Kriterien müssen während der letzten drei Monate erfüllt worden sein, mit Beginn der Symptome mindestens sechs Monate vor der Diagnose.
1) Gebräuchlich ist auch die
englische Bezeichnung Irritable Bowel Syndrome (IBS).
2) Die Angaben zur Häufigkeit von
RDS schwanken. Es besteht die Vermutung, dass durch die Aktualisierung der
Diagnosekriterien, die nun noch besser auf das Patientenempfinden eingehen, mit
einem höheren Anteil Betroffener zu rechnen ist. Aktuelle Zahlen liegen noch
nicht vor.
3) Böhm, Stephan K. / Kruis,
Wolfgang: Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms, in: Gastroenterologie
up2date 2, 2006, Seite 275.
4) Böhm, Stephan K. / Kruis,
Wolfgang: Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms, in: Gastroenterologie
up2date 2, 2006, Seite 281.
5) Ford, Alexander C. et all: Effect of fibre,
antispasmodics, and peppermint oil in the treatment of irritable bowel
syndrome: systematic review and meta-analysis, in: BMJ 2008; 337;a2313doi:10.1136/bmj.a2313
oder Tytgart, Guido N: Hyoscine butylbromide: A review of its Use in the
Treatment of Abdominal Cramping and Pain, in: Drugs 2007, 67:9, Seite 1356.
6) ÖKO-TEST Jahrbuch für 2008.