Ob Mensch oder Tier: Ohne Tränenflüssigkeit würden unsere Augen austrocknen. Doch während dieser Schutzfilm bei Tieren rein funktionale Zwecke erfüllt, nutzt der Mensch ihn zusätzlich als Ventil für Emotionen. Für die moderne Medizin rückt nun jedoch eine ganz andere Eigenschaft in den Fokus: Die Träne als biochemischer Datenträger. Neue Forschungen zeigen, dass ein winziger Tropfen die Diagnostik schwerer Krankheiten wie Alzheimer revolutionieren könnte.
Emotionales Weinen ist evolutionär gesehen eine junge Fähigkeit des Menschen. Biochemisch betrachtet ist die Flüssigkeit, die dabei fließt, jedoch ein Hochleistungscocktail. „Tränenflüssigkeit ist ein unglaublich faszinierendes Körperfluid“, erklärt die Biochemikerin Marlies Gijs von der Universitätsklinik Maastricht. Dort leitet sie das Tear Fluid Research Lab.
Für Gijs und ihr Team sind Tränen ein „Mini-Spiegel“ des gesamten Organismus. Unter dem Mikroskop entpuppt sich das klare Sekret als komplexes Gemisch aus Elektrolyten, Proteinen, Antikörpern und Signalmolekülen.
Wissenschaftler können darin Biomarker nachweisen, die auf verschiedenste Erkrankungen hindeuten:
In Maastricht laufen derzeit über 20 Projekte zur Tränen-Analyse. Das international beachtetste Projekt widmet sich der Alzheimer-Demenz. Das Ziel: Eine Alternative zu den bisherigen, belastenden Diagnoseverfahren zu finden.
In einer umfassenden Studie untersuchte das Team um Marlies Gijs vier Gruppen:
Das Ergebnis: „Die Ergebnisse zeigen einen Anstieg der Alzheimer-Biomarker mit zunehmender Krankheitsstärke“, so Gijs. Je fortgeschrittener die Erkrankung, desto deutlicher waren spezifische Proteine in der Tränenflüssigkeit nachweisbar.
Mehrere Studien zeigen, dass Tränenflüssigkeit krankheitsspezifische Biomarker enthält. Eine systematische Übersichtsarbeit belegt, dass sich in Tränen Marker für Alzheimer, Parkinson und Multiple Sklerose nachweisen lassen. Die Autor:innen bewerten Tränen als vielversprechendes, nicht-invasives Untersuchungsmaterial, sehen aber noch Forschungsbedarf für den klinischen Einsatz. Król-Grzymała et al., 2022
Ein weiteres Review beschreibt Tränenanalysen als schmerzfreie und gut wiederholbare Methode, die sich für frühe Diagnosen eignen könnte. Herausforderungen bestehen vor allem in der Messgenauigkeit bei sehr niedrigen Biomarkerkonzentrationen. Adigal et al., 2021
Aktuelle Arbeiten betonen zudem, dass standardisierte Entnahme- und Analyseverfahren entscheidend sind, um Tränentests künftig zuverlässig in der medizinischen Praxis einzusetzen. Sanroque-Muñoz et al., 2025
Warum ist diese Forschung so wichtig? Alzheimer manifestiert sich heute oft erst spät und unspezifisch. „Das Initialstadium beginnt oft vage“, erläutert Gijs. „Der Patient bemerkt Gedächtnislücken, geht zum Hausarzt, wird vertröstet. Es vergehen oft Monate oder Jahre bis zur Diagnose.“
Der aktuelle Goldstandard zur Diagnose ist zudem invasiv: Die Lumbalpunktion.
„Um eine sichere Diagnose zu stellen, benötigt man Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor). Die Entnahme via Nadel aus dem Rückenmark ist unangenehm und gerade für ältere Patienten nicht risikofrei“, sagt die Expertin. Zusammen mit MRT und psychologischen Tests ist der Weg zur Gewissheit lang und teuer.
Hier setzt die Vision der Biochemikerin an: „Ich möchte Tränenflüssigkeit nutzen, um Alzheimer viel früher und einfacher zu diagnostizieren.“
Statt einer Rückenmarkspunktion könnte in Zukunft ein simpler Streifentest stehen – ähnlich unkompliziert wie ein COVID- oder Schwangerschaftstest, durchführbar beim Hausarzt oder Augenarzt. Die Herausforderung liegt aktuell noch in der Empfindlichkeit der Tests: „Die Marker, die wir suchen, liegen in viel geringerer Konzentration vor als etwa Virenlasten. Aber technologisch ist es absolut möglich“, zeigt sich Gijs optimistisch.
Eine frühere Diagnose wirft jedoch auch ethische Fragen auf. Pathologische Veränderungen im Gehirn beginnen oft Jahrzehnte vor den ersten Symptomen. Da Alzheimer bis heute nicht heilbar ist, fragt Gijs auch kritisch: „Würden Sie wissen wollen, dass in Ihrem Gehirn Krankheitsprozesse ablaufen, wenn Sie (noch) nicht eingreifen können?“ Zudem könnten Arbeitgeber oder Versicherungen Interesse an solchen leicht verfügbaren Daten entwickeln.
Dennoch überwiegt das Potenzial: Eine frühe, schmerzfreie Diagnose ermöglicht Patienten und Angehörigen, besser zu planen, und hilft Forschern, neue Medikamente in früheren Krankheitsstadien zu testen. Die Arbeit von Marlies Gijs an der Schnittstelle von Augenheilkunde und Neurologie ist ein Paradebeispiel für moderne, patientenorientierte Forschung – innovativ, aber mit dem Blick für die gesellschaftliche Verantwortung.
Quelle & Inspiration: Basierend auf einem Interview zu “New Dutch” Innovationen. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: The tear doctor (Englisch)
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